Systemisch arbeiten bedeutet, über eine Systemtheorie zur Handlungsorientierung zu verfügen, wie Entwicklung begleitet, Probleme etc. gelöst werden können. Wer jedoch Systemtheorie als System-Theorie versteht, greift zu kurz. Sie ist nie etwas anderes gewesen als eine System-Umwelt-Theorie. Wer über Systeme nachdenkt, hat gleichzeitig über die Grenze zur Umwelt des Systems nachzudenken. Das System selbst ist deswegen System, weil es die Grenze zwischen sich und seiner Umwelt aufrechterhält.
Die sprachökonomische Verkürzung der System-Umwelt-Theorie zur Systemtheorie hat zur Folge, dass sich zu wenig mit der Wechselwirkung von System-Umwelt beschäftigt wird. Häufig wird aus einer einfachen Umweltperspektive auf ein System geschaut, d. h. es beobachtet.
Dabei wird wie von außen auf das System geschaut. Ohne es bemerkt zu haben, machen wir dabei das System zum Objekt unserer Beobachtungen und gehen von der Richtigkeit unserer Beobachtungen aus.
Hier scheint das alte Paradigma von Objektivität wieder auf. Der mehr oder weniger unbeteiligte Beobachter beobachtet wie von außen den Gegenstand seines Interesses. Dabei wird vergessen, dass sich die eigene Beobachtung selbst einem System verdankt, das in der Umwelt des beobachteten Systems agiert, es vielleicht zu kontrollieren sucht, aber nicht mit diesem identisch ist.
Die Beobachtung wie von außen erreicht keine Art "höhere Objektivität". Sie erreicht nur einen anderen Blickwinkel, der mit dem Blickwinkel des beobachteten Systems in keiner Weise etwas zu tun haben muss (freilich sollte).
Wer appellartig beobachtete Systeme auf ihre blinden Flecke hinweist, begibt sich in den Status von Erziehung, Moral und Expertentümelei. Jedes System hat das Recht auf seine eigenen Erfahrungen und wird lernen (sich selbst anpassen), wenn es diesen Bedarf für sich sieht.
Die Nützlichkeit der System-Umwelt-Theorie zeigt sich indes insbesondere in der Fähigkeit der Beobachterinnen, sich in die Perspektive des beobachteten Systems hinein zu versetzen. Eine unmittelbare Übernahme der jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion ist jedoch nicht möglich, da die Systeme operativ geschlossen sind. Ein solches Ansinnen hätte nur metaphorischen Charakter.
Hilfsweise können wir jedoch die Leitunterscheidungen des jeweiligen in Rede stehenden Systems und der mit ihnen im Zusammenhang stehenden Sinnkomplexe erkunden und miteinander ins Verhältnis bringen.
Leitunterscheidungen, Unterscheidungen und Differenzen lassen sich empirisch erforschen. Eine solche differenztheoretische Textanalyse wurde bereits unternommen und zwar Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Um ihre Brauchbarkeit zu erforschen und weiterzuentwickeln, sollte die differenztheoretische Textanalyse mit Blick auf die expliziten und impliziten Unterscheidungen von mündlichen oder schriftlichen Kommunikationen angewendet werden.
Gerade in Krisen, Konflikten und Übergängen, die zu gestalten sind, wird sich herausstellen, dass Rationalität nur als Systemrationalität, Wahrheit nur als Wahrheit des beobachtenden Systems begriffen werden kann. Außerdem zeigt sich, dass die Außenperspektive eine übergriffige Perspektive ist, wenn sie nicht mit den Leitunterscheidungen des beobachteten Systems arbeitet.
Zugespitzt gesagt arbeitet die Außenperspektive mit dem Signum der im Lichte der Erkenntnis stehenden Autorität, während die Innenperspektive als die eingeschränkte, begrenzte und vielleicht sogar als minderwertige Perspektive begriffen wird. Der Übergang zu ihrer Ausgrenzung ist fließend.
Beispiel: objektiv betrachtet haben obdachlose Personen diese oder jene Möglichkeiten, Unterkunft oder sogar Wohnraum zu erlangen. Diese Betrachtungsweise hilft uns dabei, die eigene Rationalität zu stabilisieren, nicht jedoch aus der Perspektive von Obdachlosigkeit betroffene Personen die Lebenswirklichkeit mit ihren Handlungsspielräumen wahr- und ernstzunehmen.
Luhmann hat zu Recht gesagt, dass "nicht wirklich konstituierte, sondern nur wirklich selektierbare Möglichkeiten wirkliche Möglichkeiten [sind]" (1973, 10).*
Die Angebote, um Menschen zu helfen, Übergänge zu gestalten, Krisen aufzulösen und Konflikte positiv zu nutzen, haben aus der Innenperspektive der beobachteten Systeme und nicht mit der Außenperspektive der beobachtenden Systeme zu erfolgen. Hinter diese Einsicht sollte meiner Meinung nach nicht mehr zurückgegangen werden.
* Niklas Luhmann (unveröff. Ms. von 1973). Zur Komplexität von Entscheidungssituationen. Soziale Systeme 15 (2009), Heft 1, S. 3-35.
Zitiervorschlag: Wirth, Jan V (2019). Die Von-Außen-Perspektive als Anmaßung und Übergriff. Auf: https://www.systemisch-arbeiten.info/index.php/component/content/article/9-neue-beitraege/124-die-von-aussen-perspektive-als-anmassung-und-uebergriff?Itemid=437. Zugriff erfolgt am XX.XX.20XX