Hinführung zum Thema der" 2 Wirklichkeiten" von Paul Watzlawick:
"Paul Watzlawick, ein österreichischer Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut, der in Amerika wirkte und lebte (Palo-Alto-Schule), hat die Erkenntnisse des radikalen Konstruktivismus auf die Psychotherapie bezogen. Er sprach von zwei Wirklichkeiten, der Wirklichkeit 1. Ordnung (z.B. ein Kuss = Beobachtung 1. Ordnung) und der Wirklichkeit 2. Ordnung (z.B. die subjektiv unterschiedliche Zumessung der Bedeutung des Kusses = Beobachtung 2. Ordnung) (Watzlawick l976). Diesen dem subjektiven Ermessen überlassenen Wirklichkeitsdefinitionen widmete er seine Aufmerksamkeit, da genau diese die Probleme in den zwischenmenschlichen Beziehungen ausmachen. So fragte er in der Beratung von Ehepaaren bei Erstkontakten niemals die Partner danach, was denn nun Ursache ihres Problems sei. Das Ergebnis sind in der Regel immer sehr unterschiedliche Geschichten über die Wirklichkeit, sodass es „also absurd (sei), darüber zu streiten, was .wirklich' wirklich ist" (Helmut Lambers 2014, S. 45 in "Reflexionsgrundlagen Sozialer Arbeit", Beltz Juventa).
Paul Watzlawick zufolge geht es bei der Wirklichkeit 1. Ordnung um die physikalischen Eigenschaften eines Objekts. In der Wirklichkeit zweiter Ordnung geht es um die zwar über Kommunikation vermittelte dennoch aber subjektive Zuschreibung von Sinn, Bedeutung und Wert dieses Objektes. Der Optimist und der Pessimist, die sich über das halbvolle bzw. halbleere Weinglas unterhalten, hätten zwar die selbe Wirklichkeit 1. Ordnung, aber zwei grundverschiedene Wirklichkeiten 2. Ordnung. Hier wird nahegelegt, dass es auf das Glas nur 2 Wirklichkeits-Kategorien zu beobachten gäbe.
Mit Hilfe der Systemisches Arbeiten (Begriffsbestimmung) lässt sich zusätzlich etwas anderes beobachten. Wie werden Interaktionssysteme in die 2 Wirklichkeitsordnungen eingeordnet? Zu Physik oder zu Sinn? Wir können sie gar nicht zuordnen, da sie sich keiner der beiden "Wirklichkeits-Ordnungen" fügen. Das heißt: wir brauchen eigentlich drei Ordnungs-Kategorien, sofern wir überhaupt der Watzlawickschen, übrigens klassischen, Logik der Unterscheidung von Geist und Materie folgen wollen. Das Problem dieser Unterscheidung ist, dass sie für Interaktion, Kommunikation und Sprache, also für Lebenspraxis, keinen passenden Platz bietet.
Es scheint fast so, als wenn Geist, Seele bzw. Psyche um die Materie herumschweben und sie auf geheimnisvolle Weise Sinn deutend verstehen. Wie diese Phänomene zusammenkommen, miteinander gekoppelt sind, wird nicht erklärt durch die 2 Wirklichkeits-Ordnungen. Dies ist insofern erstaunlich, da Watzlawick, Beavin und Jackson selbst die pragmatischen Kommunikations-Axiome erfunden haben, um Formen und Ablauf von Kommunikationen pragmatisch (problemlöseorientiert) für therapeutische Zwecke zu untersuchen bzw. einzusetzen.
Der Geburtsfehler dieses Theorems liegt nicht nur in der halbherzig konstruktivistischen Rangordnung und Haltung zur Welt. Wenn überhaupt Rangordnung, dann umgekehrt: Leute schreiben nicht der physikalisch vorhandenen Welt eine Bedeutung zu, sondern unsere gemeinsam interaktiv erzeugten Zuschreibungen erzeugen eine unter anderem auch physikalisch bedeutsame Welt. Würden wir übrigens als Gehirne in Nährstofflösungen liegen, wäre für uns auch die chemische Wirklichkeits-Ordnung von Bedeutung.
In der Welt liegen jedoch keine, zumal so einfache, kontextfreie Rangordnungen herum, die nur zu entdecken sind. Vielmehr scheint es so, dass wir zunehmend mehr Möglichkeiten des Einordnens und Verknüpfens von Beobachtungen in vielfältige Zusammenhänge beobachten.
Als Pro-Argument wird vorgebracht, dass die Wirkungen der Physik nicht bezweifelbar seien. Dagegen ist zu halten: die anderen Wirkungen aus dem Sozialen auch nicht. Ob jemand von einem herunterfallenden Ziegelstein getroffen wird, oder von einer Gewehrkugel, die in feindseliger Absicht geschossen wird oder sich selbst aus Verzweiflung über die Scheidung von seiner Partnerin umbringt, macht im Effekt keinen Unterschied.
Die häufig ins Spiel gebrachte Unterscheidung von harter und weicher Wirklichkeit spielt womöglich sogar denjenigen in die Hände, die die Wirklichkeit entweder gegenständlich oder pädagogisch/therapeutisch bearbeiten wollen, um ihren sozialen Einfluss gegen alternative Sprachspiele und Interaktionsordnungen zu immunisieren. Flüssige, dynamische, vielfältige Wirklichkeitsauffassungen sind sicherlich schwerer durch die „Code-Holder“ zu kontrollieren.
Eine nur zwei Kategorien enthaltende typisch psychologische Rangordnung ist mE ein wenig zu kurz gegriffen und das ist letztlich nach Ansicht des Autors entscheidend für den Mehrwert der Wissenschaft für die zumindest heute noch hinreichend interaktive Lebensführung der Gesellschaft.
Beispiel für soziale Wirklichkeit ist die sozial regulierte Sitzanordnung von Körpern und Leibern, die weder Materie noch subjektives Erleben als solches darstellt, sondern einen sozialen Tatbestand. In einem Fall, der berichtet wurde aus der Elternarbeit von Lehrern in der Grundschule, kam es dazu, dass die Lehrerin den in das Klassenzimmer eintretenden Eltern zwei Plätze in der Schulbank zuwies. Die Eltern sollten die entsprechend für Kinder geeigneten Stühle und Tische benutzen. Die Interaktionsordnung stellt sich als eine Asymmetrie von einer vorne über die Leistungen des in Rede stehenden Kindes dozierenden faktisch "höhergestellten" Lehrerin und gepresst hinter einer kleinen Schreibplatte und auf Kinderstühlen faktisch "erniedrigt" sitzenden 2 Elternteilen dar.
Der Vorschlag lautet also: wir können zur einer funktionaleren Unterscheidung von mindestens 3 Wirklichkeits-Ordnungen gelangen:
- 1. Wirklichkeits-Ordnung: physikalische Wirklichkeit von Materie, Licht, Wellen etc.,
- 2. Wirklichkeits-Ordnung: die interaktiv-kommunikative Wirklichkeit von sozialer Interaktion ("soziale Tatbestände“ á la Émile Durkheim u.v.a.m.) und
- 3. Wirklichkeits-Ordnung: die sinnhaft gedeutete Wirklichkeit des subjektiven Erlebens.
Das Glas ist weder nur physikalisch noch nur sinnhaft voll oder leer, sondern ebenfalls - und wichtig für Soziale Arbeit - Bezugspunkt einer kontextabhängigen Interaktions-Ordnung, die in ihren Handlungsmustern für die Beteiligten soziale Wirklichkeit erzeugt und andere emotional bedeutsamere Lebensthemen als herumstehende Gläser hat.
Systemisch betrachtet gibt es im postontologischen und -psychologischen Umgang mit Erkenntnis, Wissen und Formen von Unterscheidungen keine richtigen Lösungen, sondern nur schlechte oder bessere. Die soziale Wirklichkeit der Interaktionen - wie wir sie erzeugen und sie uns zugleich gegenübertritt - anzuerkennen scheint mir vorläufig die bessere.