Im Zentrum der Postmodernen Sozialen Arbeit steht die Ambivalenz und die Möglichkeiten des Umgangs mit ihr. Die Ambivalenz von Perspektiven, Interaktionen und Wahrnehmungen lässt sich an der Situation der gesetzlich vorgeschriebenen Schwangerschaftskonfliktberatung beispielhaft vorführen. [Auch die psychosozialen Situationen von ImmigrantInnen und Familien können hierfür sehr geeignet sein.] Im Zentrum dieser Beratungsform stehen zwei recht unterschiedliche Perspektiven auf den sogenannten Schwangerschaftskonflikt.
Inwiefern Beratung in Zwangskontexten mit den ethisch-normativen Grundlagen der Sozialen Arbeit vereinbar ist, sollte zuerst reflektiert werden und läßt sich als Ambivalenz von Fremd- und Selbstbestimmung unterscheiden.
Die Postmoderne Soziale Arbeit geht von 4 Ambivalenzen der Lebensführung aus:
- der Ambivalenz von Wirklichkeit und Möglichkeit (die aus der Sinnanwendung herrührt),
- der Ambivalenz von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung (die aus der Teilnahmenotwendigkeit des (In-)Dividuums an der Gesellschaft herrührt),
- der Ambivalenz von Inklusion und Exklusion (die aus Problemen der Vereinbarkeit von Inklusion und Exklusion herrührt) und
- der Ambivalenz von Bedürfnis und Funktion ( die aus den unterschiedlichen Perspektiven auf Inklusion und Exklusion herrührt).
Zunächst lässt sich die systemische Unterscheidung von innen und außen anlegen. Einerseits handelt es sich für Beobachterinnen von außen um einen zuvorderst moralisch-rechtlichen Konflikt zwischen dem Lebensrecht der Frau und dem Lebensrecht des Ungeborenen. Von innen stellt sich die Situation grundsätzlich anders, ja lebenspraktisch vielfältiger dar. Der Schwangeren schießen die widersprüchlichsten Gefühle und Gedanken durch den Kopf, weil in ihr selbst ein Teil der Person gegen einen anderen Teil der Person arbeitet (vgl. im Folgenden Koschorke, S. 1116).*
Perspektive der Mutter auf ihr Kind |
Perspektive der Mutter auf sich selbst |
|
Das ist mein Kind. |
Das ist mein Leben. |
|
Ich darf dieses Kind annehmen. Es möchte sich entfalten. |
Auch ich habe ein Recht zu leben und dich zu entfalten. |
|
Ich muss es schaffen, ich habe die Kraft dazu. |
Schon beim letzten Mal bin ich zusammengebrochen und hatte Selbstmordgedanken. |
|
Wir haben schon zwei Kinder, da findet auch ein drittes seinen Platz. |
Wir haben bereits zwei - wie oft bin ich schon diesen meinen beiden nicht gerecht geworden. |
|
Dies ist vielleicht eine letzte Chance für mich Mutter zu sein. |
Dies ist ziemlich sicher meine letzte Chance im Beruf. |
|
Dann bin ich den Stress des Berufslebens los. |
Ich drehe durch, wenn ich nur zu Hause bleibe. Darunter leiden alle in der Familie: der Mann, die Kinder, selbst. |
|
Ein Kind hat damals meine Paarbeziehung gerettet. |
Beim letzten Kind haben wir uns sechs Monate getrennt. Ein weiteres verkraftet unsere Ehe mit Sicherheit nicht. |
|
Und wenn mein Freund mich verlässt: ich schaff es auch allein. |
Habe ich das Recht mein Kind ohne Vater und von Sozialhilfe aufzuziehen? |
Die Komplexität der sich hier zeigenden Ambivalenzen ist offenkundig. Zunächst wie gesagt handelt es sich um einen moralisch-rechtlichen Konflikt, der durch die Polarisierung der öffentlichen Diskussion geprägt ist. Außerdem handelt es sich um einen psychischen Konflikt der Schwangeren. In diesem Konflikt geht es methodisch gesehen zuerst darum die Frau in ihrer existenziellen Krise verständnisvoll zu begleiten und die damit verbundenen Ambivalenzen zuzulassen. Im weiteren entfalten sich Diskrepanzen in der Frage einer möglichen Überforderung als Mutter, einer als negativ bewerteten beruflichen Perspektive, einer zu hohen Belastung der Partnerschaft und schließlich sozioökonomische Bedenken und Ängste.
Das Kernargument dieses Beitrags lautet Koschorke folgend, dass ein versuchter Eingriff in die Autonomie nicht funktioniert, ohne das aufgeworfene Dilemma sachlich und emotional zu verkürzen und das Gerechtigkeitsempfinden der Frau in gravierender Weise zu verletzen. Die Kunst der Beratung besteht darin, vorübergehend ein geschlossenes Interaktionssystem zu schaffen, in der lediglich das Verhalten und die Befindlichkeit der schwangeren Frau wichtig sind. Im Zulassen und der Verbalisierung der Ambivalenzen erst entsteht überhaupt die Chance, das Für und Wider abzuwägen, ihre Bedeutung zu erfassen und Möglichkeiten an die Hand zu geben, aus diesem Dilemma heraus Anschlüsse, Alternativen oder Optionen offen zu legen bzw. zu konstruieren.
Damit ist in der Perspektive der postmodern agierenden Sozialen Arbeit gezeigt, dass der Herausarbeitung bzw. dem Einblenden von Ambivalenzen eine relevante Funktion in der Erkenntnis und der Entscheidungsfähigkeit zukommen kann (vgl. Wirth 2015: Die Lebensführung der Gesellschaft).
* Koschorke, Martin (2014): Schwangerschaftskonflikt-Beratung. In: Frank Nestmann, Frank Engel und Ursel Sickendieck (Hg.): Handbuch der Beratung 2: Ansätze, Methoden und Felder. 3. Aufl. Tübingen: Dgvt, S. 1111–1125.