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Eine Beschreibung und Erforschung der Lebensführung mit der Systemtheorie von Luhmann macht darauf aufmerksam, dass Ambivalenz (Zweideutigkeit, Zweiwertigkeit) ein Merkmal von Sinnproduktion überhaupt sein könnte. Wenn Sinn phänomenologisch als zugleich von Wirklichkeit und Möglichkeit im Bewusstseinsstrom bestimmt wird, lässt sich ableiten, dass immer, wenn Sinn produziert wird, zugleich auch die Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit pro-duziert wird. Wenn wir diese Differenz ernst nehmen als einen kognitiven Antrieb, eine Art Motor für Evolution, dann müssen wir womöglich diese Differenz als Ambivalenz charakterisieren. Die unterschiedliche Bewertung der beiden Seiten der Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit bildet die Ambivalenz.
Die These lautet, dass sich die Produktion von Ambivalenz von sinnverarbeitenden Systemen (Bewusstsein, Familien, Teams, Organisationen, Gesellschaft) nicht vermeiden lässt. Typische Ambivalenzen der Lebensführung sind beispielsweise die Ambivalenz von Leben und Tod, von Gesundheit und Krankheit, von Glaube und Unglaube, von Liebe und Hass, von Freundschaft und Feindschaft, von Nähe und Distanz, von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, von Inklusion und Exklusion, von Macht und Ohnmacht etc.
Die produzierten Ambivalenzen können allerdings abgeschattet oder übersehen werden. Der Alltag als unhinterfragter Ablauf von Selbstverständlichkeiten beispielsweise schattet notwendigerweise die Ambivalenz bestimmter Kommunikationen oder Handlungen so lange ab, bis sich bestimmte Probleme der Lebensführung ergeben. Das Übersehen bzw. Ignorieren von Ambivalenz zeigt sich darin, dass uns die Ambivalenz zwar bekannt ist, dadurch aber die Anschluss-Operationen nicht blockiert werden. Ein prägnantes Beispiel ist das Rauchen trotz deutlicher Warn-hinweise auf der Packung.
Das unweigerliche Auftreten von Ambivalenzen als Merkmal der Sinnproduktion kann für die psychosoziale Problembearbeitung bzw. Weiterentwicklung genutzt werden. Heutige Beratungssysteme werden daher auch die Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit nutzen, um beispielsweise die Wirklichkeit des Problems zu konstruieren und, darauf bezogen, die Anzahl von Handlungsmöglichkeiten zu vermehren.