Psychosoziale Arbeit bezieht sich stets auf eine problematisch erlebte oder zumindest veränderungswürdige Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist nie in eindeutiger Weise gegeben. Jede anderslautende Behauptung würde Wissenschaft fragwürdig machen, sofern sie vernünftig vorzugehen hat. Aber:
Vernunft, die sich für eindeutig hält, kann keine Vernunft sein.
Wenn sich die Wirklichkeit mit ihren einzelnen Phänomenen anders deuten und kategorisieren lässt, lässt dies eine Schlussfolgerung zu: die Konstruktion von Wirklichkeit produziert Ambivalenzen.
Diese Bestimmung schließt an die einschlägige Definition von Ambivalenz von Zygmunt Baumann an:
Ambivalenz entsteht, wenn sich ein Sachverhalt oder Ereignis mehr als einer Kategorie zuordnen lässt.
Dieses soziologische Theorem unterscheidet sich von dem traditionellen bzw. psychologischen - emotionalem - Konzept von Ambivalenz. Nichtsdestotrotz können verschiedene Zuordnungen unterschiedliche Gefühle auslösen und zwei Herzen in einer Brust schlagen lassen. Dies steht jedoch nicht im Mittelpunkt der soziologischen, kognitiven Begriffsbestimmung.
Bei dieser geht es um eine Kritik an linearen, hierarchischen und klassifikationslogischen Denksystemen. Ein solches Denkkonzept verwenden beispielsweise die heutige Medizin und große Teile der diagnostischen Psychologie. Diesem Denkmodell kann ein weiteres dazu gestellt werden und zwar das postmoderne Denkmodell, das den Umgang mit nicht eindeutigen Situationen oder Ereignissen, d. h. den Umgang mit Ambivalenz in den Mittelpunkt rückt.
Beobachtungen sind stets an Beobachter gebunden und verweisen auf diese zurück. Der Mensch ist bekanntlich ein soziales Wesen. Er hat zwar - existenzialistisch - sein eigenes Leben zu führen, aber er kann es nicht allein. Er bekommt es fortlaufend mit Beobachterinnen zu tun, die anders und anderes beobachten. Ein Kennzeichen des Sozialen ist demnach, dass ein Sachverhalt oder Ereignis von verschiedenen Beobachterinnen beobachtet wird. Diese Erkenntnis ist die Geburtsstunde des zirkulären Fragens bzw. des mehrperspektivischen Arbeitens. Seine tragende Idee ist, dass es nützlich ist, einen Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven zu beobachten, um die toten Winkel, blinden oder weißen Flecke auszuleuchten, die sich in der Einzelbeobachtung ergeben.
Das mehrperspektivische Herangehen ist eine selten versiegende Quelle, um gemeinsam etwas einzublenden, das Einzelne aus welchem Grund auch immer ausgeblendet haben.
Die Unterschiedlichkeit von Perspektiven auf die Wirklichkeit führt zu einer weiteren Vermehrung von Ambivalenz als Möglichkeit der Zuordnung von Sachverhalten und Ereignissen mehr als einer Kategorie. Während das eine Denkmodell davon ausgeht, dass sich Störungen mit Krankheitswert auf eindeutige Weise beobachten und erforschen lassen können, geht das andere Denkmodell davon aus, dass diese Eindeutigkeit nicht gegeben ist.
Sicherlich ist es falsch, daraus eine wechselseitig sich exkludierende Konfrontation der Modelle herbeizuführen oder zu stiften. Jenseits der Frage, ob sie wahr sind, zeigt sich die Nützlichkeit und wechselseitiger Ergänzung dieser Denkschulen. Die eine ist für die Diagnose besser geeignet, die andere ist besser für die Therapie geeignet. Freilich stellt dies eine unbewiesene Behauptung dar. Dieser Umstand ist jedoch eher der mangelnden Forschung geschuldet, die in Deutschland fest in den Händen der Expertinnen und Verbände liegt, die mit dem naturwissenschaftlichen-medizinische Paradigma beruflich sozialisiert wurden. Zudem hat dieses Paradigma mehr Zeit gehabt, um sich gesellschaftlich und kulturell durchzusetzen. Wir bestreiten auch nicht die Erfolge solcher Modelle in der Naturwissenschaft, sondern plädieren dafür, dass diese Modelle im sozialwissenschaftlichen Bereich und ihrer entsprechenden Anwendungsforschung gleichermaßen zum Einsatz kommen sollten. Im niederschwelligen Beratungs- und Therapiebereich lässt sich indes feststellen, dass systemisches Arbeiten sehr verbreitet ist. Weil es sich bewährt und zu wenige wissen davon?
Die These lautet, dass der gelingende Umgang mit Ambivalenz ein zu wenig beachtetes Kennzeichen für Ermöglichungs-Professionen wie Soziale Arbeit, Psychotherapie und Beratung, Coaching und Supervision sein kann.
Der erste Grund ist, dass das Erkennen von Wirklichkeit nicht nur an die Möglichkeit, sondern an die Notwendigkeit gekoppelt ist, Sachverhalte und Ereignisse mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen. Dies ist der Stoff, aus dem Lernen, Veränderung, Möglichkeiten und Optionen sich entfalten.
Der zweite, noch bedeutendere Grund für einen gelingenden Umgang mit Ambivalenz zu plädieren, ist die jahrtausendealte Erkenntnis, dass Sinn-Anwendung auf der Fähigkeit beruht, Wirklichkeit und Möglichkeit miteinander zu verknüpfen. Diese Fähigkeit mag aus anthropologischer Perspektive dem Menschen gleichsam eingebaut sein. Inwieweit diese Fähigkeit zur genetischen Ausstattung des Menschen gehört oder über soziale Evolution erworben wurde, mag dahingestellt sein. Offensichtlich verfügen nicht nur Individuen, sondern auch Teams, Familien und größere soziale Einheiten/Vielheiten über die Fähigkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit zu parallelisieren bzw. zu relationieren, d.h. aufeinander zu beziehen.
Wir konstatieren aus diesen Überlegungen eine der Lebenspraxis und wissenschaftlichen Praxis nolens volens anheim fallende Produktion von Ambivalenzen. Ihre Geburtsstätte ist die Produktion von Sinn, der ohne die ihm innewohnende Ambivalenz von Wirklichkeit und Möglichkeit kein Sinn wäre, sondern einfach nichts.
Der Verzicht auf die Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit würde wie ein schwarzes Loch alle Unterschiede und Unterscheidungen in sich hineinziehen, die Wandel stiften.
Hieraus leiten wir zwei zentrale Überlegungen für professionelles Handeln ab, das sich auf die Möglichkeit oder Notwendigkeit zur Veränderung bzw. Selbstveränderung bezieht. Im Mittelpunkt des psychosozialen Arbeitens steht Sinn und Sinnstiftung als Aufgabe von Beratung, Therapie, Coaching und Supervision. Dabei geht es nicht um die Frage, ob das Leben Sinn hat, sondern ob es Sinn macht.
Aufgegriffen werden von den Klientinnen und Adressaten nur diese Anregungen, die für sie Sinn machen.
Sinn machen aber bedeutet nach dem bisher Gesagten zur Einheit der Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit auf Seite der Möglichkeit:
- Möglichkeiten durchzuspielen,
- Möglichkeiten zu intensivieren,
- Möglichkeiten zu re/kombinieren oder
- Möglichkeiten zu erweitern.
Auf Seite der Wirklichkeit ginge es darum:
- Wirklichkeit zu bedenken,
- Wirklichkeit zu vervielfältigen
- Wirklichkeit zu verflüssigen
- Wirklichkeit zu negieren.
Wir gehen davon aus, dass Klientinnen und Adressaten immer Möglichkeiten haben und sie auch realisieren. In jedem Moment des Handelns und Erlebens ist auch anderes Handeln und Erleben möglich. Das genau meint der Bezug auf Sinn, wie es beispielsweise die Phänomenologie von Husserl herausgearbeitet hat. Wir leben in Wirklichkeit und Möglichkeit zugleich. Die damit verbundenen Widersprüche und Konflikte werden im Alltag nicht mit beobachtet. Die mitlaufende Beobachtung würde die Kapazitäten jedes Systems sprengen und das Handeln lahmlegen. Dieser Erkenntnis greifen wir später noch auf, wenn wir über Reflexion in Beratung, Supervision etc. nachdenken.
Ambivalenz, so hatten wir herausgefunden, ist ein Kennzeichen von Sinnproduktion. Der Nutzen sich mit Ambivalenz zu beschäftigen könnte jedoch noch größer sein, wenn wir Ambivalenz als die vielleicht wichtigste Ressource für die psychosoziale Arbeit beobachten. Sinnsysteme, also Individuen, Teams, Familien und sonstige soziale Systeme, sehen einen Grund zur Veränderung einer Wirklichkeit, die auch anders sein könnte, wenn sie diese Wirklichkeit als problematisch erleben. Diese im wahrsten Sinne des Wortes energiegeladene Unterscheidung von problematischer Wirklichkeit und verwirklichbaren Möglichkeiten ist der entscheidende Treibstoff für Selbstveränderung wohin auch immer sie absichtlich oder zufällig führt.
Nun haben Leute wie gesagt den Tag über meist Wichtigeres zu tun als sich absichtlich selbst zu verändern. Die mit ihren Handeln und Erleben aufgeworfenen Widersprüche, Paradoxien und Konflikte bemerken sie nicht einmal, bis sie mit einem Problem zu tun bekommen, das sich mit den herkömmlichen Umgangsweisen nicht bewältigen oder lösen lässt. Die Information, dass ein Sachverhalt oder Ereignis problematische Gesichtspunkte hat, kann eine Anregung aus der Umwelt oder das Ergebnis eigener Beobachtungen sein.
Im ersten Fall kann diese Information beispielsweise von einer relevanten Bezugsperson stammen, im zweiten Fall registriert das System in eigener Weise Probleme, die negative Auswirkungen auf es haben könnten. Psychosoziale Arbeit hätte demnach so vorzugehen, situativ unbeobachtete Ambivalenzen wieder einzublenden und darauf zu spekulieren, dass Klientinnen und Adressatinnen diese Ambivalenz als Treibstoff für Veränderung nutzen.
In der Intensivierung oder Vermehrung von Möglichkeiten ist der zweite methodische Bezugspunkt für psychosoziale Arbeit. Aufgrund der zunehmenden Auswahl an Möglichkeiten das eine Handeln und Erleben zu bevorzugen, das andere zu verwerfen, entstehen Entscheidungs-Probleme. Die Lebensführung ist multioptional geworden, heißt es aus der Soziologie. Das Problem des Anregens und Informierens (wie bin ich informiert?) wandelt sich in ein Problem des richtigen Entscheidens (wie entscheide ich richtig?).
Wir kehren zurück zum gelingenden Umgang mit Ambivalenz. Ambivalenz als Beobachtung und Verknüpfung von Wirklichkeit und Möglichkeit stellt sich nicht automatisch her, sie muss wahrgenommen und registriert werden. Ohne diesen Treibstoff der Ambivalenz ist keine worauf auch jeweils abzielende Veränderung machbar, möglich oder notwendig.
Ambivalenz bedeutet das Entfalten von Unterschieden, die Sinn machen.
Es geht demnach nicht um beliebige Unterscheidungen, sondern um Unterscheidungen, die in der aktuellen Lebenssituation von jemanden als relevant wahrgenommen werden. Diese Bezugspunkte bringen entweder Klientinnen oder Adressaten ein oder wir erzeugen absichtsvoll und auftragsorientiert solche Unterschiede. Gerade der letzte Fall ist aufgrund der ständig mit laufenden, aber unbeobachteten Ambivalenz des Handelns und Erlebens leicht auszulösen mit einem: Könnte man das nicht auch anders sehen?
Weitere methodische Schritte und Aspekte des gelingenden Umgangs mit Ambivalenz sind späteren Artikeln vorbehalten. In diesen wird es nach der Einblendung von Ambivalenzen um die Nutzbarmachung von Ambivalenzen als Treibstoff für den fortlaufenden psychosozialen Prozess gehen. Zu zeigen war heute nur, weshalb die Produktion von Sinn und Ambivalenz in den Mittelpunkt von beraterischen und therapeutischen Veränderungsprozessen zu rücken ist:
„Wenn wir der Ambivalenz des Lebens und Arbeitens offen in die Augen schauen und uns gemeinsam die Zeit nehmen, um uns selbstkritisch zu prüfen, ob denn der sich gerade anbietende Weg für uns wirklich der Richtige ist, dann werden Ambivalenzen für uns so hilfreich sein wie Leuchttürme auf schwierigen Routen durch immer unübersichtlicher werdende soziale Felder.“ (Kleve und Wirth¹).