Das Grundproblem der Lebensführung in der funktional differenzierten Gesellschaft ist die Erlangung von Relevanz. Individuen haben einen daraus folgenden berechtigten Anspruch, an sozialen Systemen teilzunehmen. Allerdings formulieren soziale Systeme Erwartungen, denen wir nicht ausweichen können. Beispielsweise beinhaltet die Rolle als Schülerin, etwas lernen zu wollen und sich belehren lassen zu wollen. Die Rolle als Arbeitnehmerin beinhaltet, Ziele und Aufgaben der Organisation bzw. des Unternehmens wahrzunehmen, die nicht zwangsläufig die eigenen sind, ja sogar manchmal das Gegenteil sind von dem, wofür Einzelne einzustehen bereit sind.
Was aber wäre, wenn die Arbeitnehmerinnen und Schülerinnen bereits viel zu sehr an die bestehenden sozialen Systeme angepasst wären? Dass sie zwischen Funktion und Bedürfnis nicht hinreichend unterscheiden können und/oder in Angst sind, ihre aktuellen Bedürfnisse nicht decken zu können und demfolgend den Horizont ihrer Bedürfnisse nicht mehr verlassen können, ohne Schaden zu nehmen?
Den Kindern verdanken wir das Leben im Augenblick und das Leben in Zukunft, also zweierlei. Damit sind sie uns Erwachsenen in mehrfacher Hinsicht voraus. Sie haben einen differenzierten Blick, und sie brauchen drittens noch keine Rücksicht zu nehmen auf die Erwartungen von Arbeitgebern, Chefinnen/Chefs und vermeintlichen Autoritäten.
Was wäre, wenn wir Kinder daher in unverstellterer Weise viel besser als bereits angepasste Erwachsene unsere Bedürfnisse zum Ausdruck bringen können, ohne bereits allzu sehr dafür darauf Rücksicht zu nehmen, welche Wirkungen unsere formulierten Erwartungen bei den sogenannten Autoritäten haben?
Wir behaupten, dass der Anpassungsprozess bei Erwachsenen bereits so weit fortgeschritten ist, dass bei ihnen fremde und eigene Erwartungen unauflöslich ineinander verknüpft sind, sodass eine Analyse ergebnislos bleibt, aufgrund der vielen zirkulären Wechselwirkungen. Diese Wechselwirkungen lassen sich im Nachhinein nur noch den einzelnen Akteuren zu rechnen, ohne dass ihr tatsächlicher Beitrag in irgendeiner Weise "real" zu rekonstruieren ist.
Die Frage lautet also, was bedeute ich und andere Kinder euch in meinen/unseren Erwartungen und Wünschen? Dass wir Kinder nicht zur Schule gehen können, dass wir verstümmelt werden, dass wir arbeiten gehen müssen, eure Konsumgewohnheiten übernehmen zu haben, steht offenkundig einer von Euch so oft medienwirksam geäußerten humanen Sichtweise auf die funktional differenzierte Gesellschaft im Wege.
Wenn Richard David Precht (zu Recht) fragt, "wer bin ich und wenn ja wie viele", führt das immerhin zur Einsicht, dass in unser Denken und Handeln verschiedene Sichtweisen eingehen. Es führt jedoch nicht zu der Frage, was es den anderen bedeutet, wenn ich nicht Liebe empfangen, nicht lernen, nicht arbeiten kann und nicht befähigt werde, an der Gesellschaft teilzunehmen, wie ich es eigentlich erwarten darf?
Die Frage ist also grundsätzlich zu revidieren: "was bedeutet es euch, wenn ich nicht mein Leben leben kann gemäß meiner Fähigkeiten und Bedürfnisse?"
"Ich habe den Eindruck gewonnen, dass ihr euch es bequem gemacht hat in eurem Leben. Das ist völlig o. k. aber ich habe ein Problem damit, wenn ihr auf meine Kosten lebt. Diese Kosten entstehen, wenn ihr die Ressourcen der Umwelt so ausschöpft, dass es fraglich ist, wie wir unser Leben noch führen können, also eine Wahl haben?"
Ein Leben zu führen bedeutet immerhin, zwischen Entscheidungen wählen zu können. Diese Entscheidungen habt ihr uns vorweggenommen. Wir können nur noch auf dem, was Ihr uns hinterlassen habt, unsere Entscheidungen treffen. Dies bedeutet einen stark eingeschränkten Spielraum. Der Planet, unsere Lebensführung, unsere Ressourcen sind erschöpft. Die Spirale dreht sich immer weiter und es geht jetzt darum, etwas ändern. Diese Entscheidungen können wir jedoch nicht allein treffen. Wir sind auf Euch Leute, Politiker, Wissenschaftler angewiesen, die über den Augenblick hinaus denken und handeln.
Deswegen schlagen wir vor, dass Ihr euren Entscheidungshorizont weitet auf die nächsten 50-100 Jahre. Es geht hier darum, zu sehen welche Wirkungen, unsere Entscheidungen für die nächsten Generationen haben. Wenn die Frage gestellt wird, was bedeutet es, wer ich bin und was es euch bedeutet, dann vermissen wir die Antwort, dass es uns viel bedeutet, wie ihr, unsere Kinder, unsere Kindeskinder leben. Und wir vermissen die Antwort darauf, wie die Politik, die Wirtschaft, und das Recht darauf eingerichtet sind, diesen Horizonten eine Handlungsorientierung weiterzugeben. Für das heutige Handeln.
Es ist nicht notwendig, alle drei Jahre eine neue Generation von Fernsehern im Wohnzimmer stehen zu haben. Es ist nicht notwendig alle fünf Jahre ein neues Auto zu kaufen, das nicht nachhaltig konstruiert wird. Es ist nicht nötig, alles neu zu haben. Es ist nicht notwendig, die Welt in Bereiche einzuteilen, die "es sich leisten können" und" die es sich nicht leisten können."
Es ist geradezu schädlich, diese Unterscheidungen zu treffen, weil wir als gesamte Menschheit unter den Entscheidungen, die ihr trefft, zu leiden haben.
Als Kinder und Eltern (!) dieser Welt rufen wir Politikerinnen, Juristinnen und Unternehmerinnen dazu auf, über den Augenblick hinaus zu denken und das Jahr 2100 als Maßstab für Entscheidungen zu nehmen. Welche Kontinente, welche Gruppen, welche Völker und welche Länder werden betroffen sein von den heute von Ihnen zu treffenden Entscheidungen?
Es geht also im Sinne einer allzu psychologisierenden Sichtweise nicht darum, wer "wir sind", sondern darum, was "wir einander bedeuten". Was bedeutet Ihnen mein Leben? Meine, unsere Hoffnung ist, dass niemand zurückgelassen wird, kein Kontinent unterspült wird, kein Land auf dieser Welt keine andere Option sieht, als Krieg zu beginnen, Waffen zu kaufen und seine vermeintlichen, ja doch nur geliehenen Reichtümer, und die zudem von kurzer Dauer sind, mit Menschenleben kostenden und Familien zerstörenden Technologien zu verteidigen.
Wir stehen an einem Wendepunkt und wer unsere Frage nach der Bedeutung meines Lebens nicht versteht, hat die soziale Dimension dieser Fragestellung in keiner Weise verstanden. Noch nicht.
Quelle: ein Kind unter anderen...