Die problematische Wirklichkeit des "Homo abstractus": Zum Abbau und Aufbau von Unterscheidungen und Verknüpfungen in der psychosozialen Arbeit
Psychosoziale Arbeit kann sich auf die Umdeutung von Wirklichkeit und Möglichkeit, von Problem und Ressource, von Alternative und Nicht-Alternative fokussieren. Die dabei beobachtbar werdenden, in Glaubenssätze eingebetteten Kausalitäten und Verknüpfungen sind für die gelingende psychosoziale Arbeit von Bedeutung. Es mag beispielsweise eindeutige Positionen, Perspektiven und Vorgehensweisen bei den Beteiligten geben. Die Auflösung von Eindeutigkeiten sind das tägliche Geschäft der psychosozialen Beratung.
Diese Vorgehensweise wird Dekonstruktion, eine aus der postmodernen Philosophie stammende Wortverbindung von Destruktion und Konstruktion, genannt. Dekonstruktion richtet sich üblicherweise auf Begriff gewordene Gegensätze, die sich wechselseitig konstituieren, zum Beispiel die Unterscheidung von Fremden und Einheimischen, Mann und Frau, von Gesundheit und Krankheit etc. Dekonstruktion kann sich jedoch auch auf Folgerungen, Verknüpfungen und Kausalitäten beziehen. Ein Ziel psychosozialer Arbeit könnte darin bestehen, diese Folgerungen, Verknüpfungen und Kausalitäten gemeinsam zu entdecken und alternativ zu stellen. In den meisten Fällen ist es nicht nötig oder nicht möglich, einzelne Klientinnen und Klienten darüber aufzuklären. Der wichtigste Grund dafür liegt sicherlich darin, dass sich Klientinnen und Klienten nicht in erster Linie für die Einzelheiten psychotherapeutischer Beratungsmodelle interessieren.
Im folgenden Beispiel verknüpft der Klient sein Problem bereits mit einer Lösung, von der keiner weiß, ob und wie sie funktioniert. Wenn jedoch der Klient so selbst überzeugt wäre, wäre er nicht in ihrer Beratungsstelle erschienen. Diesen Gedanken könnten Sie zu Beginn der Auftragsklärung aufgreifen. Bereits jetzt "wissen" wir demnach, dass der Klient von seiner Verknüpfung von Problem und Lösung nicht hundertprozentig überzeugt ist. Die "relationale Dekonstruktion" bezieht sich auf das Hinterfragen dieser Verknüpfung und dem Bereitstellen von Alternativen zur möglichen Selektion durch den Klienten.
Beispiel:
Sie arbeiten in einer Sucht-Beratungsstelle. Zumeist haben ihre Klientinnen und Klienten abhängig machende Erfahrungen mit harten Drogen gemacht und möchten den Konsum beenden. Ein Klient erscheint zum Erstgespräch und zeigt sich soweit motiviert und fähig. Er trägt im Gespräch vor, dass er es für die beste Alternative hält, sich ein paar Tage zu Hause abzuschotten und so die körperlichen Entzugserscheinungen zu überstehen. Nach Ihrer Erfahrung ist es jedoch so, dass diese Form der Selbsttherapie, zudem wenn sie nicht psychosozial begleitet wird, wenig Aussicht auf Erfolg hat. Dieses Expertenwissen können Sie direkt in das Gespräch einbringen. Damit erzeugen Sie jedoch eine möglicherweise ungünstige Konfrontation, da Sie seinem Lösungsvorschlag - ohne über den Einzelfall Bescheid zu wissen - Ihren Lösungsvorschlag entgegenstellen.Professioneller wäre es, an die Idee des Klienten in wertschätzender Weise anzuschließen, indem Sie mithilfe verschiedener Verfahren und Methoden den Klienten dazu anzuregen, diese Möglichkeit konstruktiv zu durchdenken und auch kritisch zu bedenken. Hierfür gäbe es eine breite Auswahl von Modellen zur Gesprächsführung, Beratung und Therapie. Eine konkrete Vorgehensweise als eindeutig passend vorzuschlagen wäre unprofessionell. Grundsätzlich dürfte eine integrative Arbeitsweise funktionieren, d. h. die Integration von bestimmten Elementen verschiedener Modelle.
In der jetzigen Situation könnte es jedoch unsicher sein, ob Sie sobald den Klienten zum Folge-Gespräch wiedersehen. Bei kognitiv entsprechend erreichbaren Klientinnen und Klienten könnte eine aufmerksam durchgeführte "Pro und Contra-Arbeit" am Flipchart hilfreich sein, die von Ihrer Seite zudem frei von Bewertungen zu gestalten wäre - ein wahres Kunststück der nonverbalen Kommunikation. Schließlich sollen es die Lösungen des Klienten sein und nicht Ihre, sonst wäre deren Nachhaltigkeit bereits von Anfang gefährdet. - Ebenso könnte eine hypnotherapeutische Imaginierung einer krisenhaften "Zuhause-Situation" hilfreich sein, in deren Verlauf der Klient Lösungsmöglichkeiten für Rückfall-Gedanken oder medizinisch notwendige Eventualitäten beschreibt und seinen Krisenreaktionsplan weiterentwickelt. - Auch Verräumlichungen wie das Arbeiten mit Bodenankern (Metaplan-Karten etc.) können ein passendes Verfahren sein, um Ziel-Mittel-Relationen ein anschauliches Bild zu geben und so Ressourcen zu stärken bzw. zu erweitern.
Allerdings könnte es sich bei der Klientin oder den Klienten um jemanden handeln, der für seine Nachreifung eine sehr fürsorgliche, beelternde Persönlichkeit als Beraterin braucht. In dieser Nachbeelterung kann es möglich oder notwendig sein, konkrete Vorschläge zu machen, die auch gerne aufgegriffen werden. Hier vermischen sich therapeutische und pädagogische Zielsetzungen. Ihre Durchmischung stellt nur dann ein Problem dar, wenn sie nicht reflektiert und womöglich auch transparent gemacht wird.
Als psychosoziale Fachkraft ist es vielleicht ungewohnt, mit so abstrakten Methoden wie der Dekonstruktion zu arbeiten. Jedoch bieten die entsprechende Kompetenz und der Umgang mit ihnen zwei wichtige Vorteile.
- In der Fallbearbeitung gewinnen Sie ein mächtiges Mittel, weil Sie praktisch in die zentralen Prozesse von sozial konstruierter Wirklichkeit hineinzielen und sich unabhängig machen von allzu vielen Details und Informationen.
- In der Fallbearbeitung können Sie flexibler vorgehen und sind nicht auf die ethisch fragwürdige Umsetzung von rezeptartig daherkommenden Technologien angewiesen. Umso konkreter die Methoden umgesetzt werden sollen, umso mehr steigt die Gefahr, dass sie als Mittel an dieser Stelle, mit diesen Klienten, zu dieser Zeit nicht passen.
Wenn Milton Erickson meint, praktisch müsse für jeden Klienten eine passende Therapie entwickelt werden, hat er sicherlich recht. Hierbei gibt es jedoch zwei Wege zu unterscheiden, denn die Passung von Methode und Klient stellt ebenso eine Relation dar, die in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit hinterfragbar ist.
Der eine Lösungsweg ist, sich mit vielen kleinen konkreten Techniken auszustatten und eine möglichst hohe Expertise beim Griff in diese Methodensammlung zu bekommen. Hier entsteht das Problem der Passung. Der andere Lösungsweg ist es, die Theorien hinter diesen Techniken zu verstehen. Dies kommt in gewisser Weise der Arbeit mit den Glaubenssätzen gleich, die die Klientinnen und Klienten mitbringen. Das Problem der Passung wird transformiert in das Problem der Beobachtbarkeit. Es ist so ähnlich als wenn wir einen konkret passend herzustellenden Schlüssel gegen einen Universalschlüssel austauschen, der in jede Tür passt, dessen Form wir aber nicht im Einzelnen kennen.
Wenn wir diese eindeutigen, schlechterdings eineindeutigen Verknüpfungen (Dogmen, Ideologien, fixe Vor/Urteile etc.) kennen und bearbeiten können, ohne sich vorab auf ein Therapie-Modell festzulegen, können wir sehr viel flexibler und insofern noch passender auf Situationen und Beteiligte reagieren. Natürlich: Abstraktion kann manchmal eine Herausforderung sein, wenn wir sie zielgerichtet einsetzen wollen. Wir abstrahieren aber schon, bevor wir wussten, dass wir das tun, weil Abstraktionen notwendig sind, aus der jeweiligen konkreten Situation auszusteigen, zum Beispiel seine Vergangenheit zu reflektieren oder in die Zukunft zu schauen etc.. Insofern ist der Mensch seit jeher ein „homo abstractus“ und bereits die Rede vom "Menschen" abstrahiert vom Gemeinten auf eine nicht mehr überbietbare Weise. ♠